Andrea Caroni

Ihr Ausserrhoder Ständerat

04. Dezember 2013

Wichtige Voten im Rat

Parlamentarische Initiative Rechsteiner Paul. Rehabilitierung administrativ versorgter Menschen

für die Kommission:

Der Entwurf geht auf eine parlamentarische Initiative zurück, die unser damaliger Ratskollege Paul Rechsteiner am 13. April 2011 einreichte. Die Ausgangslage ist die folgende: Seit Mitte des 19. Jahrhunderts wurden in der Schweiz Tausende von Menschen von kantonalen oder kommunalen Behörden "administrativ versorgt"; damit ist die Einweisung in Institutionen gemeint, oftmals in Strafanstalten, zumeist ohne gerichtlichen Rechtsschutz. Die Einweisung erfolgte aufgrund einer behördlich unerwünschten Lebensweise, die mit Begriffen wie "arbeitsscheu", "lasterhafter Lebenswandel" oder "Liederlichkeit" beschrieben wurde. Opfer waren zumeist junge Menschen, oft Frauen, die auffielen oder etwas am Rande der Gesellschaft standen, zum Beispiel Frauen, die unehelich geboren hatten.

Erst mit der Einführung der fürsorgerischen Freiheitsentziehung im Jahre 1981 schob das strengere Bundesrecht dieser Praxis einen Riegel vor. In den langen Jahrzehnten davor widerfuhr Tausenden von Betroffenen in unserem Land unermessliches Leid, zuerst durch die Massnahme selber, dann durch das soziale Stigma, das mit der Einweisung verbunden war. Der Grossteil jener Massnahmen ist mit unserem heutigen Gerechtigkeitsempfinden nicht mehr vereinbar.

Ziel des Entwurfs ist es, diesen Menschen Gerechtigkeit widerfahren zu lassen und gleichzeitig Klarheit für die Öffentlichkeit zu schaffen. Die Vorlage sieht drei Kernpunkte vor: Erstens die Anerkennung des Unrechts, zweitens eine wissenschaftliche Aufarbeitung, drittens den Schutz der Akten sowie ein Einsichtsrecht für die Betroffenen. Ich äussere mich kurz zu diesen drei Punkten.

Zur Anerkennung des Unrechts: Die meisten der erwähnten Fälle dieses Freiheitsentzugs, der aufgrund vager Kriterien im damaligen kantonalen Recht zur Durchsetzung behördlicher Moralvorstellungen vollzogen wurde, verletzen zumindest aus heutiger Sicht unserer Gerechtigkeitsempfinden fundamental. In Kombination mit dem mangelnden Rechtsschutz handelt es sich um Tausende von Fällen, in denen wir zumindest heute sagen müssen: Das waren elementare Verletzungen namentlich der persönlichen Freiheit, wie sie auch in der Bundesverfassung und in völkerrechtlichen Verträgen garantiert ist. Dafür haben sich bereits Mitglieder des Bundesrates öffentlich entschuldigt, ebenso Vertreter von Gemeinden und Kantonen.

Heute möchten wir nun mittels Bundesgesetz in der Bundesversammlung die Entschuldigung auf die höchste Stufe in diesem Lande heben. Es geht dabei weniger darum, über die damaligen Behördenvertreter zu richten; es gab zwar damals schon vehemente Kritik am System, und es gab auch damals schon die verfassungsmässig garantierte persönliche Freiheit. Ihre Kommission schlägt aber vor, der Versuchung zu widerstehen, heutige Wertvorstellungen eins zu eins auf die Vergangenheit zurückzuprojizieren. Wir gehen zukunftsgewandt vor und möchten heute festhalten, dass diese Massnahmen zumindest unserem heutigen Empfinden diametral entgegenlaufen.

Diese Anerkennung ist für die Betroffenen wertvoll. Denn spätestens dadurch können sie das Stigma definitiv abschütteln, das sie ein Leben lang geprägt hat, und sie erfahren so eine späte Genugtuung. Das Sprichwort sagt: "Besser spät als nie!"

Wir haben übrigens, wie schon für die Spanienfreiwilligen 2009, darauf verzichtet, jeden einzelnen Entscheid aufheben zu wollen. Wir schlagen Ihnen eine Rehabilitierung ex lege vor. Wir haben in der Kommission lange über den Begriff der Rehabilitierung diskutiert. Oft liegt ja gar kein Strafurteil vor, das man aufheben könnte. Wir haben den Begriff dann dennoch verwendet, geben ihm aber eine etwas neue Bedeutung. Wir sehen das als eine Rehabilitierung sui generis, die eben einfach generell das Unrecht anerkennt und dann geeignete Massnahmen zur Aufarbeitung vorsieht. Wir haben dafür ein Bundesgesetz gewählt, weil uns für einen Bundesbeschluss die Grundlage fehlte.

Der zweite Punkt ist die wissenschaftliche Aufarbeitung. Die Aufarbeitung ist bis heute spärlich. Ein paar leuchtende Beispiele gibt es, mit Werken über die Situation in den Kantonen Bern und Thurgau. Wir schlagen Ihnen daher als zweite Massnahme vor, dass der Bund eine unabhängige Expertenkommission einsetzt. Damit auch die Rolle des Bundes unabhängig mituntersucht werden kann, haben wir extra nicht die Verwaltung damit beauftragt. Diese Experten sollen im Kern das Schicksal der administrativ Versorgten ausleuchten und damit auch der Öffentlichkeit Einblicke in jene Praxis gewähren sowie Vorschläge für weitere Massnahmen präsentieren, sofern es solche gibt. Personendaten werden für die Veröffentlichung anonymisiert. Der einzige Minderheitsantrag, den Sie heute zu beraten haben, betrifft den Umfang und den genauen Gegenstand dieser Aufarbeitung.

Der dritte Punkt schliesslich ist der Datenschutz und die Akteneinsicht. Wir möchten sicherstellen, dass die Behörden die Akten aufbewahren. Das ist nämlich eine Grundlage dafür, dass die Betroffenen und auch die Wissenschaft dann Zugriff auf diese Akten haben. Das Einsichtsrecht soll aber einfach gestaltet sein. Das Ziel ist es, die Akten eben im Sinne der Opfer zu verwenden und niemals gegen sie. Daher gibt es eine lange Schutzfrist von 80 Jahren sowie das Verbot, die Akten für Entscheide zum Nachteil dieser Personen zu verwenden.

Ich habe Ihnen jetzt die drei Kernpunkte ausgeführt. Ich führe Ihnen jetzt noch einen Punkt aus, der nicht in der Vorlage ist, nämlich die Frage der finanziellen Entschädigung.

Schon der Initiant, der uns jetzt wieder mit seiner Anwesenheit im Saal beehrt, hat im Vorschlag auf eine finanzielle Entschädigung verzichtet. Ihre Kommission tut es ihm gleich, denn nach ihrer Ansicht ist es nicht am Bund, hier eine Entschädigung für das Verhalten von kommunalen oder kantonalen Behörden zu leisten. Wir haben denn auch im Begleitbericht ausdrücklich festgehalten, dass die Bemühungen um eine finanzielle Wiedergutmachung auf kantonaler oder kommunaler Ebene damit natürlich nicht ausgeschlossen sind.

Fazit: Ihre Kommission tagte fünfmal zu dieser Vorlage und nahm sie am 15. August 2013 mit 18 zu 1 Stimmen bei 4 Enthaltungen an. Ich bitte Sie, gemäss Ihrer starken Kommissionsmehrheit ebenfalls auf diese Vorlage einzutreten.

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