Andrea Caroni

Ihr Ausserrhoder Ständerat

01. Dezember 2020

Politische Arbeit | Wichtige Voten im Rat

Parlamentarische Initiative grünliberale Fraktion. Ehe für alle

Da Eintreten unbestritten ist, möchte ich zur Vorlage als Ganzes nur zwei Gedanken vorausschicken:
1. Ich begrüsse die Ehe für alle sehr. Sie ist für mich aber noch nicht das Ende der Geschichte. Damit hätten dann zwar alle Paare die Möglichkeit zum Vollprogramm der Ehe und weiterhin, wie heute auch, zum Schmalprogramm des un- oder selbst geregelten Konkubinats. Was dann weiterhin fehlt, ist noch die mittlere Option, der Pacte civil de Solidarité. Wir haben entsprechende Postulate angenommen. Ich freue mich auch fünf Jahre nach deren Annahme weiterhin sehr auf den in Aussicht gestellten Bericht.
2. Mit diesem Gesetz setzen wir die Ehe für alle sehr konsequent um, mit einer Ausnahme bei den Witwenrenten. Dort würde eine bestehende Benachteiligung der Männer neu verdoppelt. Aber der Kern des Problems liegt im Sozialversicherungsrecht und möge dort dann bitte bald angegangen werden.
Jetzt aber zum Rückweisungsantrag: Als hobbymässiger Verfassungsrechtler und -liebhaber finde ich die aufgeworfene Frage sowohl legitim als auch spannend. Ich komme nach dem Studium aller Argumente und Gutachten, ob geheim oder nicht geheim, zum Schluss: Man kann in allerbesten Treuen beide Lesarten vertreten. Wird die historische Auslegung von Kollege Engler hervorgehoben, spricht diese sicher eher für eine Bundesverfassungsänderung, alle anderen Aspekte der Auslegung hingegen nicht. Ich beginne mit einem Wortlaut. Ich habe hier die Bundesverfassung vor mir und lese nur ganz kurz dieses kurze Sätzlein zu Artikel 14, "Recht auf Ehe und Familie", vor: "Das Recht auf Ehe und Familie ist gewährleistet." Nirgends findet sich dort ein Hinweis, wie diese Ehe denn nun ausgestaltet sein soll, z. B. als Patriarchat oder Matriarchat. Es steht nicht einmal genau, wie viele Leute in dieser gemeint sind. Das ist der Wortlaut. Die anderen Elemente, vor allem die zeitgenössische Auslegung, gehen auch in diese Richtung. Die Initiative von 2016 kann man nämlich auch in diese Richtung lesen. Herr Engler hat sie auf seine Weise gelesen. Man kann aber auch sagen: Wenn es so klar ist, dass dieser Ehebegriff nur Mann und Frau meinte, warum wollte der Initiativtext das noch schreiben?
Ich nenne noch zwei Gedanken, die mir wichtig sind.
1. Zum Vergleich: Vor genau 35 Jahren, im Herbst 1985, haben der Gesetzgeber und dann das Volk an der Urne die Ehe in viel grundlegenderer Weise umgepflügt, als es hier vorgesehen wäre. Er hat nämlich das eheliche Patriarchat zugunsten einer gleichberechtigten Ehe aufgegeben. Im Vergleich zu jenem Totalumbau der Achtzigerjahre nimmt sich die vorliegende Reform wie eine Pinselrenovation aus. Eine Verfassungsänderung, das habe ich noch nachgeschaut, hat damals niemand in den Raum gestellt, denn der Ehebegriff der Verfassung wurde als genügend weit verstanden: vom Patriarchat bis zur gleichberechtigten Ehe.
2. Im Unterschied zu jener eherechtlichen Revolution der Achtzigerjahre nimmt diese Vorlage gar niemandem etwas weg, sondern gewährt nur ein paar zusätzlichen Personen die gleichen Rechte, die die anderen schon haben. Die Rechte Letzterer werden in keiner Art und Weise berührt, was damals hingegen schon der Fall war: Die Männer verloren eben das Patriarchat.
Das ist wichtig, denn viele Gegner dieses Instituts "Ehe für alle" sagen, ihr Institut sei in Gefahr und sie müssten ihre Privilegien schützen. Aber dieses Argument führt aufs Glatteis. Der Schutz der Ehe bleibt zu hundert Prozent erhalten. Es stärkt eigentlich das Institut, weil mehr Leute teilhaben können. Wenn nun jemand sagt: "Nein, nein, mein Privileg, das besteht darin, dass ich etwas habe, was andere nicht haben, das ist mein Privileg", dann muss ich sagen, dass das eine blosse Diskriminierung wäre, die nicht schutzwürdig wäre. Man könnte dann höchstens sagen, das sei wegen der theoretischen Fortpflanzungsgemeinschaft der heterosexuellen Ehe, der heterosexuellen Paare. Aber wenn das der einzige Grund wäre, heiraten zu dürfen, dann müsste man die Ehe auch allen heterosexuellen Paaren verbieten, die keine Kinder haben können oder wollen. Aber das will zu Recht ja niemand. Die Ehe ist also schon heute nicht an die Fortpflanzung geknüpft. Damit entfällt auch der einzig denkbare Grund, sie für Heterosexuelle zu reservieren.
Mein Fazit ist: Es spricht nichts gegen die Ehe für alle. Niemand verliert etwas, aber manche gewinnen etwas. Eigentlich gewinnt auch die Allgemeinheit, wenn zwei sich lieben und sich rechtlich verbindlich dazu absichern wollen. Man kann in guten Treuen hierfür dennoch eine Verfassungsabstimmung wollen, aber man muss es nicht.
Noch der letzte Gedanke: Wenn wir es tun, dann sollten wir, dann müssten wir mit Kollege Engler allenfalls diese Woche in der Kommission dafür sorgen, dass wir die Frage der Fortpflanzungsmedizin auch verfassungsmässig richtig aufgleisen.
Ich plädiere jedoch für den naheliegenderen, einfacheren und auch schnelleren Weg und lade Sie ein, der Mehrheit zu folgen.
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